Wie Wehringhausen zu Klein-Paris wurde oder eben auch nicht, je nachdem, was man sieht, und was man sehen will

„Es ist dunkel“, dachte Wilhelm bei sich, und lachte. „Natürlich ist es das.“ Er schaltete die Taschenlampe seines Handys ein und dachte an den seltsamen, dünnen Mann in seiner Uniform (Epauletten links, Epauletten rechts, dazwischen eine Menge seltsam anmutender Orden, verteilt auf einer schmalen Brust), den er nachts zuvor in einer Eckkneipe mit zu wenigen Raucherbereichen und zu lauter Musik getroffen hatte, und der in seinem Aufzug ganz klar als das durchging, was man einen „Sonderling“ nennt. Lange sprachen sie an diesem Abend über Wehringhausen, die Seele des Stadtteils und ähnliche undefinierbare Dinge, bevor der Fremde sich mit zu messerscharfen Schlitzen geschlossenen Augen zu Wilhelm herüberbeugte und flüsterte „Du willst das Innere des Viertels sehen? Geh in den Untergrund, aber sei achtsam.“

Wilhelm stand, bis auf den Widerschein seiner Leuchte auf blassgrauen Backsteinen, in undurchdringliche Schwärze gehüllt. „So stelle ich mir das Nichts vor“, dachte er mit einem unbeholfenen Gackern und schaute sich um. Der Abstieg mit seiner rostigen Leiter in den alten Stollenbunker unterhalb des Wilhelmsplatzes war kaum noch zu erahnen, und dennoch war es das einzige, was Wilhelm ein, wenn auch verschwindend geringes, Gefühl von Sicherheit gab. Langsam tastete er sich vorwärts, voller Scheu, die kalten, nassen Wände zu berühren. Er wusste, daß seit Jahrzehnten kein Mensch mehr diesen Ort betreten hatte, allein die Asseln, die Spinnen und wer weiß was sonst noch für Scheußlichkeiten zeugten von einer Spur von Leben. Wilhelm gruselte es. Drei Schritte, vier Schritte, Staub, Kälte und Spinnweben. Sechs Schritte, sieben Schritte, mehr waren nicht nötig, bis er vor der Tür stand. Zwei Riegel und ein großes Rad, fast wie ein Lenkrad, dachte er. Wilhelm öffnete sie.

Der Raum, der sich auftat, verwunderte ihn. Nicht nur, weil er erleuchtet war, sofern man das dämmrige Licht „Beleuchtung“ nennen konnte. Es war die Maschine, die ihn erstaunte. Mit ihren Zahnrädern, antiquierten Messinstrumenten, Hebeln und ihren flackernden Bildschirmen („Bildschirme?“ dachte Wilhelm bei sich) schuf sie eine perfekte Illusion: ein kleines Paris. „Wundern Sie sich?“, fragte eine Stimme hinter ihm, und Wilhelm durchfuhr ein kalter Schauer des Entsetzens. Er drehte sich um, nicht vorbereitet auf die Gruppe alter Männer in zerrissenen Uniformen, die er dort in der Ecke lungern sah, alle an einem kleinen Tisch versammelt, auf dem außer einem Kartenspiel nichts lag, was diese Männer lebendig erscheinen ließ. Das Licht schien durch sie hindurch. „Ihr seid Franzosen, oder?“, fragte Wilhelm. Der Mann, den er erst am Vorabend in der Kneipe getroffen hatte, lächelte. „Ja, und wir werden diesen Krieg gewinnen. Paris wird überall sein.“ Wilhelm hörte das stoische Klacken der Zahnräder im Raum, nahm das sonore Brummen der Maschine wahr, und alles wurde ihm klar. „Der Krieg ist vorbei“, sagte er, „schon seit langer Zeit“. Fast schien es ihm, als sei der alte Mann nicht verwundert, vielmehr, als sei er erlöst, als dieser langsam auf die Maschine zuschritt und den Hebel umlegte. Stille legte sich über den Raum, und Wehringhausen konnte wieder das sein, was es war. Es konnte sich selbst genügen.