Wie Wehringhausen zum deutschen Liverpool wurde oder eben auch nicht, je nachdem, was man sieht, und was man sehen will

 

„Connard stupide“ fluchte John, der wie immer etwas blasiert daher kam, „da hat mir gestern so ein Erbshirn eine Schramme in meinen Panamera gefahren, als ich Julian zur Janusz-Korczak gebracht habe“. Paul schaute so betreten drein, wie es ihm in diesem Moment möglich war. „Helter Skelter“ flüsterte er, und tastete mit dem Fuß vorsichtig nach Ringo, der lachend unter dem Tisch lag. George konnte das alles nicht fassen. „Get serious, boys!“ herrschte er seine Weggefährten an, „wir sind nicht zum Spaß hier.“ Ein betretenes Schweigen umhüllte die Tische in der „Sumpfblüte“.

„Relax!“ donnerte es durch den Raum. Am Nachbartisch sprang Holly Johnson auf, als würde eine glühende Nadel sein Innerstes penetrieren, „Don’t do it!“ schallte es erwartungsgemäß aus tausend Kehlen zurück – ein mittlerweile liebgewonnenes Ritual in allen Wehringhauser Kneipen, die von Holly und seinen Jungs besucht wurden. George wurde wütend. „Ich kann das alles auch lassen, wisst Ihr?!“. Grinsend hielt Paul Heaton ein Konzertplakat von „Concert for Wehringhausen“ mit der linken Hand in die Luft, während das Feuerzeug in seiner rechten dem Papier bedrohlich nah kam. „Der bringt das“ kicherte Ringo, und stellte Elvis Costello aus purem Bock ein Bein.

Am Morgen danach war der Bodelschwinghplatz bereits vor der zweiten Tasse Kaffee in goldene Maiwärme gehüllt. John und Paul schauten sich so ironisch wie möglich an. „Nicht schlecht, die Jungs“ bellte Ian McCulloch in Johns Ohr, „aber aus denen wird nichts. Kackfrisuren. Und mit einem Namen wie „A Flock Of Seagulls“ lockt man höchstens eine besoffene Ornithologin hinter dem Ofen hervor“. Ringo lachte wie ein erstochener Esel – und wie immer als einziger. „Lass mal Abflug machen“, raunzte Paul, und holte sich postwendend den ihm zugewiesenen Rüffel ab. „Wir tun das hier für George.“ bemerkte John, nicht ganz zu unrecht. „Und außerdem will ich „Orchestral Manoeuvres In The Dark“ noch sehen.“ „Der Name ist ja NOCH bescheuerter“ lachte Ian, und klatschte sich mit dem blasebalgfaltigen Gerry Mardsen ab. Gerry war eine Institution im Viertel, und manch einer glaubte sogar, er habe Wehringhausen aus seiner rechten Rippe geformt, bevor alles begann. Dem war natürlich nicht so, obwohl Gerry schon mit seinen Pacemakers, den Searchers und gerüchteweise sogar mit Simon Rattle die Muschel im Volkspark bespielt hat, als George, Ian, Holly und die anderen noch eine Teenagerphantasie waren. Sein Wort hatte Gewicht, aber „Wir ziehen das hier durch, dahinten gibt’s Fusel“ war zugegebenermaßen auch ein Wort, auf das sich alle lokalen Renegaten einigen konnten (alle, bis auf den anämischen Colin vielleicht, der immer noch beleidigt war, daß „Carcass“ ihn in einer lichtscheuen Winternacht aus dem Proberaum am Schlachthof geschmissen haben, obwohl er sich seit mittlerweile acht Monaten „Black“ nannte). Ein Pesthauch von Woodstock lag über Wehringhausen, aber immerhin war er warm.

„Geiles Konzert“ spuckte Paul in sein Bier, „wann wart Ihr zu Hause?“ „Wir haben 260DM gemacht, alles für die Pelmke“, murmelte George versonnen. „Darum geht es doch gar nicht“, fiel John ihm ins Wort, „es geht um die Sache! Den Kiez! Die Stadt!“. Ringo lachte und vertauschte heimlich das alkoholfreie von George mit dem Pilsener von Paul. Johns Blick wanderte durch die vollbesetzte „Sumpfblüte“ und heftete sich an die Band, die in der letzten und dunkelsten Ecke der Kaschemme beständig und laut gegen den Kneipenlärm anspielte. „Wer ist das?“, fragte er absent in die Runde. „“Bloc Party“, antwortete Paul, „Keles neue Combo.“ „Pas mal du tout“, flüsterte John und stand auf. „Vielleicht wird aus Wehringhausen ja doch einmal etwas anderes als ein schmieriger Furz auf der Landkarte.“ Ringos Lachen erschütterte den Raum.